Danach kam die nächste Etappe. Ich lernte immerhin eine Menge DDR-Schlager kennen, sah zum ersten Mal in meinem Leben einen Ghettoblaster, damals noch liebevoll Dransisdorräädioh genannt, und erlebte das (vorerst) flachste Land meines Lebens.
Irgendwann standen wir vor diesem Grenzübergang im Bahnhof. Am meisten imponierten mir die Silhouetten der Volkspolizisten oben unter´m Dach mit ihren Maschinenpistolen. Ich war in einer Welt ohne Waffen aufgewachsen - und nun das!
Nach nur drei Stunden, die wir halb schlafend verbracht haben, durften wir die S-Bahn Richtung Zoo betreten. Wieso Zoo? Sehen wir schon so aus, ging es mir durch den Kopf. Auf dem Bahnhof habe ich meinen Mantel angezogen, der eigens für die Reise gekauft worden war, darunter ein Jackett, damit ich mich nicht erkälte. Und noch einen Schal, um den Hals zu schützen. Deutschland, kaltes Land, hatte man mir gesagt. Am Kudamm saßen die Menschen bei Cafe Zuntz zur Seligen Witwe und tranken ein kühles Bier. Der 1. Oktober war ein warmer Sonnentag. Ob die gemerkt haben, dass ich fremd war?
Dann hat er uns doch geholfen. Wir fuhren endlich in einem Zug, der kein Bummelzug mehr war. Wohin, wussten wir allerdings nicht so genau. So etwa Richtung Berlin. Als wir den Zug an einem kleinen Ort wechselten, sagte man uns, wir sollten erst mal nach Leipzig fahren. Wieso sollten, wir mussten. Ich fing an, über meine vergeudeten Geografiestunden zu schimpfen. Dass die Hauptstadt von Uruguay Montevideo war wusste ich, dass man Manhattan mit paar Glasperlen gekauft hatte, auch. Wo ist bloß die Hauptstadt von Deutschland?
Das sollte ich bald lernen. Beim nächsten Halt, wo ich glaubte ganz nahe bei Berlin zu sein, geschah etwas, was ich mehrfach erlebt hatte, Lokwechsel! Die E-Loks, die ich seit der Grenze von Slowenien nach Österreich bewundert hatte, gab´s ab hier nicht mehr. Vor unseren Zug wurde wieder eine Dampflok gespannt. Huch!
Eine halbe Stunde später stand eine kleine dickliche Frau mit einer komischen Uniform vor mir und krähte sinngemäß „Gudn Daach“. Sie lief rot an, als sie meine Reiseunterlagen sah und brüllte los: „Nähmän Se gefällischst den Interzonenzuch, wenn Se nach dem Westn fahren.“ Vollends aus dem Häuschen kam die Dame, als sie hörte, dass ich zur Hauptstadt von Deutschland fahren wollte und dass diese im Westen von Ostdeutschland läge. „Schulldchnsä! Nu schläschds aber dreizähne! Se missen unsre Rebublig in 24 Stunden verlassn!“ Nu awwr flodd!
Voller Schreck versprach ich ihr, dass ich ihrer netten Bitte sogar gleich nachkommen würde, falls sie mir zeigte, wie ich fahren soll. Da wurden ihre Gesichtszüge netter und sie umschrieb, wie man in Leipzig umsteigen müsse, um auf einen Vorortzug zu kommen, der etwa Richtung Berlin fährt. Nochmal umsteigen, nü ist man in Berlin-Oberschöneweide. Dann die S-Bahn nach Friedrichstraße. Und dann? Ich wusste nicht, dass die Welt der Armen dort endete. Beim Tränenpalast! Der hieß damals noch nicht so, weil die Mauer ganz frisch gebaut war und die Wessis noch nicht zu den Ossis durften. Umgekehrt schon gar nicht. Seit 1990 ist die weg, und Wessis und Ossis dürfen wieder - wenn sie wollen …
Die diversen Umsteigeaktionen absolvierten wir mit zunehmender Perfektion. Einer blieb beim ersten Haufen, der Nächste trug so viel wie möglich an eine noch sichtbare Stelle und blieb dort stehen. Der Dritte pendelte eine Weile zwischen den beiden, bis der erste Haufen weg war.
Nach einigen netten Stunden, wo ich immer wieder meine Habseligkeiten zählte, setzte sich der Zug nach Landshut, Bayern in Bewegung. Ich hatte die beiden Türken bei der Gepäckzählung um Längen geschlagen - 13 Stück, davon ein gebündeltes Paket aus ebenso vielen Schachteln voller Süßigkeiten, und nicht zu vergessen, Kanisterchen Orangenschalenmarmelade. So etwa 5 Liter. Studenten brauchen Kraftnahrung!
Irgendwie schien ich wieder in eine Umgebung geraten zu sein, in der man mich veräppelte. Denn ich verstand wirklich kein Wort Deutsch mehr. Die Szene erinnerte mich an ein Gespräch bei der Botschaft der Schweiz, wo etwa ein Dutzend hohe Herren meine Tauglichkeit für ein Studium haben feststellen wollen. Ich hatte nur einen von ihnen verstanden, während ich die seltsam gutturalen Laute der anderen für eine Art Härteprüfung gehalten hatte. Obwohl die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich mich dennoch aufgenommen hatte, bin ich doch lieber nach Berlin gegangen. Irgendwie fand ich die Sprache nicht so nett. Schade!
Beim Entladen unserer Wertsachen in Landshut rempelte mich ein Gepäckträger an und sagte etwas. Wow! Wo war ich denn angekommen. Ich verstand ihn nicht, er verstand mich nicht. Etwa wieder aus Deutschland raus? Zum Glück fanden sich Leute, die Deutsch sprachen. Dann folgte aber die nächste Enttäuschung - die Würstchen hier schmeckten greißlich, pfuideibl! Und der Senf war süß! Ich ahnte, dass schwere Zeiten auf mich zukommen würden.
Wieso denn zukommen, sie waren schon da. Hier gab es nämlich keinen Zug nach Berlin. Ich höre noch die Stimme des Bahnhofsvorstehers am Ohr „Erst fress´n die Weißwürscht mit Messer und Gabel und dann zu die Saupreiß´n fahren wollen.“
Während der Nachtfahrt durch die Alpen habe ich mein Problem mit der kürzesten Strecke nach Berlin gelöst. Die Sache war dadurch aufgekommen, dass in meinen Reiseunterlagen nichts von München stand, obwohl der Zug nach München fuhr. Zwei türkische Gastarbeiter, die hießen damals so, man sprach noch nicht von Menschen mit Migrationshintergrund, die auch nach Berlin unterwegs waren, bestätigten mir meinen Verdacht, dass ich auf dem falschen Weg war. Die schöne Kölnerin lieferte auch noch den letzten Beweis dafür, dass es einen kürzeren Weg nach Berlin geben müsse.
Als der Zug morgens den Bahnhof Salzburg enterte, standen wir, die beiden Türken und ich, bereits an der Tür des Waggons. Wir mussten nur noch unzählige Gepäckstücke, Konfektschachteln u.ä. entladen. Als der ganze Klumpatsch draußen war, stellte ich fest, dass die beiden Türken gar kein Deutsch sprachen. So musste ich selber zum Bahnhofsvorsteher, der bei meinem Anblick gar nicht erschrak. Er musste solche Figuren wohl häufig gesehen haben. Na, ja, etwas anrüchig muss ich auch gewesen sein. Er zeigte mir bei der Frage nach der schnellsten Verbindung nach Berlin den Zug, aus dem wir gerade ausgestiegen waren. Wir weigerten uns mannhaft, den Zug wieder zu betreten. So ein Unsinn! Der Stationsvorsteher schüttelte sein weises Haupt, wir unsere weniger weisen auch.
Der Zug fuhr ab und wir saßen auf einem kleinen Berg Pretiosen in der Kälte des Hauptbahnhofs zu Salzburg. Der nette Stationsvorsteher mochte uns nicht mehr helfen und setzte mich in Richtung Fahrplan in Marsch. Da stand irgendwo geschrieben, dass es einen Zug nach Landshut gäbe. Das schien eine echte Abkürzung nach Berlin zu sein. Die Weisheit, dass man Abkürzungen nur dann nehmen sollte, wenn man viel Zeit hat, kannte ich damals noch nicht.
Noch ein Staat, den es nicht mehr gibt
Yarramalong ist das Land der wilden Pferde