Eine Reise nach Balkonien
In ganz Balkonien herrschen strenge Sitten, die das Gegenteil von dem bewirken sollen, was der II. Hauptsatz der Thermodynamik aussagt: Alle Systeme streben nach einem Zustand völliger Unordnung. Was dies bedeutet, wissen Kinder und Ehemänner besser zu deuten als Physiker.
In Balkonien leben aber Wesen, die sich den strengen Gesetzen ungern beugen. So trotzen z.B. die Eichkätzchen der Vorgabe, dass alles, was oben ist, oben zu bleiben hat; und natürlich alles unten unten bleiben soll. Sie wetteifern mit den Vögeln um die Lufthoheit, auch wenn weniger vollkommen beherrscht. Zuweilen rächen sie sich bei diesen, indem sie deren Gelege zerstören - und die naive Vorstellung, dass Eichkätzchen Nager seien. Sie sind Nager, ja, aber unter anderem.
So trug es zu, dass eine Taube, die einen Tannenbaum für so hoch hielt, dass nur Vögel seinen Wipfel erreichen könnten, ihren Irrtum mit dem Verlust des Nests bezahlen musste. Das schmusige Eichkätzchen hat mit Frau und Kind zwei der drei Nestlinge verspeist. Das dritte Vogelkind flog aber tief in die Rosen und entzog sich damit dem Massaker. Dabei muss man erwähnen, dass das Wort "fliegen" den Vorgang nicht ganz treffend beschreibt, weil dem Vögelchen die dazu erforderlichen Voraussetzungen noch nicht ganz gewachsen waren.
Die Balkonierkinder retteten das arme Tier, dem auch die Katzen der Umgebung nachstellten, und brachten es in einem Karton unter. An dem wurde auch bald der Name angebracht, unter dem es zwar nicht ganz wie Knut, ein anderes verlassenes Tier aus Berlin, berühmt werden sollte, aber immerhin unvergessen in Balkonien: Charly.
Da Tauben ebenso zu Allesfressern gehören wie Eichkätzchen, wuchs Charly recht flott auf und warf bald seine Daunen ab. Nur die Schwanzfedern wollten nicht so schnell die richtige Form finden, die ein Vogel braucht, um vogelfrei zu sein. Wann dies der Fall sein würde, entwickelte sich zu einem ständigen Streitthema, deren einfache Lösung die Balkonierkinder fanden: Lass doch Charly fliegen!
Da ein anderer Berliner, der mit unvollkommenem Gefieder abgestürzt war, Otto Lilienthal, allen eine Mahnung war, wurde Charly nur halb in die Freiheit entlassen: Eine Schnur am Bein sorgte dafür, dass Charly nach ungültigen Flugversuchen wieder eingeholt wurde. Die Sache lief so ab, dass das längste Balkonierkind den Vogel hoch hielt, während eine anderes mit den Flügeln, Pardon Armen, schlagend vorne weg lief. Charly wurde freigelassen wie ein Papierdrachen und landete kurz danach auf der Schnauze, Pardon auf dem Schnabel.
Eines Tages kam es, wie es kommen musste: Charly flog fast waagrecht und geradeaus. Unter Berücksichtigung der Abdrift durch das Gewicht der Schnur, zeigte die Flugbahn also leicht nach oben. Am nächsten Morgen wurde Charly auf den Balkon gebracht, von dem aus er gegen das älteste Wesen in Balkonien, die Linde, fliegen sollte. Leider berechnete er seine Flugbahn nicht optimal und landete ganz weit unten, aber noch auf dem Baum. Den weiteren Weg erledigte er zu Fuss. Der Weg zum Wipfel, etwa 20 m, dauerte den ganzen Tag. Als die Nacht kam, stand Charly ganz oben - und ganz allein.
Am nächsten Tag war Charly weg - aber nicht sein Name. Alle Ringeltauben, die Balkonien überfliegen, heißen seitdem Charly.
Nicht so glücklich wie Charly erlebte ein anderer Piepmatz den Absturz vom Nest. Bei ihm waren sofort die Katzen zur Stelle und rissen ihm die halb gewachsenen Schwanzfedern aus. Die beiden Eltern versuchten mit allerlei Trickserei, ihr Kind zu retten. Die Lüfte mochten sie noch so gut beherrschen, aber auf dem Boden lassen sich Katzen nicht so leicht die Mahlzeit verderben. Diesmal half ein Rosenzweig, obwohl nach der strengen Ordnung von Balkonien nur die Nachtigallen die Rosen besingen dürfen. Da dem kleinen Vogel aber nicht nach Singen zu Mute war, ließ sich seine Unterbringung auf der Rose zeitweilig mit den Landessitten vereinbaren. Er musste nur den Schnabel halten, um nicht aus dem dornigen Paradies verjagt zu werden.
Als der Abend kam, musste der Piepmatz in einem Käfig untergebracht werden, weil nachts in Balkonien Ungeheuer in Form von Steinmardern ihr Unwesen treiben. Da die Vogeleltern aber mit dieser Unterbringung nicht ganz glücklich schienen, wurde der Käfig in einem Zimmer aufgehängt, dessen Fenster nachts offen stehen konnten. Nu saßen die beiden Eltern am Fenstersims und zwitscherten dem Kind ein Gutenachtlied.
Damit der arme Kerl die Nacht überleben konnte, wurden die jüngsten Exemplare aus der balkonischen Regenwurmzucht geopfert. Am nächsten Morgen standen die Eltern noch am Fenster, als er wieder auf dem Rosenzweig platziert wurde. Die Regenwurmzufuhr übernahmen die glücklichen Eltern, bis sich die Nacht meldete. Diesmal flogen die Eltern gleich vor das besagte Fenster und warteten auf den Nachwuchs.
Nach einer Woche war der Rosenzweig leer. Und die balkonischen Sitten hatten eine schwere Prüfung überstanden - was nach oben gehört, muss nach oben.
Eine weitere sittliche Krise erlebte Balkonien wieder durch die Eichkätzchen, die wirklich nicht wissen, wo sie hin gehören. Sie hatten viele Eicheln in der Erde verbuddelt, wodurch sich ein künftiger Eichenwald in den Blumenbeeten ankündigte. Später warfen sie andernorts viele Eicheln respektlos auf den Boden, obwohl diese nach oben gehören. Aus dem Fenster guckend sah nun Herr Balkonier wie die Kinder eine neue Ordnung zu schaffen trachteten: Sie buddelten Eicheln so in die Erde, dass die Sache nach einer Wiederaufforstung des Eichenwaldes aussah, der Balkonien vor der letzten Eiszeit bedeckt haben muss.
Als die Kinder zum Essen ins Domizil kamen, hat Herr Balkonier schnell die Eicheln ausgegraben und durch Eichenstecklinge ersetzt. Beim Essen hat er so nebenbei verlauten lassen, dass manche Menschen unglaubliche Geschichten glauben tun, z.B. die Story über Expresseichen, die bereits am Tage ihrer Pflanzung aus der Erde gucken. Die Kinder schrieen "Mama, Mama, vielleicht haben wir auch Expresseichen!" Auf den Vater, der dies ins Reich der Märchen verwies, wollte niemand hören.
Man hätte die Freudenschreie der Balkonierkinder hören müssen! Sie tanzten um die Bäume, in deren Schatten die einzigen Expresseichen der balkonischen Geschichte gewachsen waren. Ob es die woanders auch gibt?