Allzu gering war die Strecke, die ich zurückgelegt hatte, doch nicht - absolut gemessen. Nur der dumme Berg war noch mächtig hoch. Zudem fuhr ich eine Strecke, die man nach den Erzählungen der Leute mit Hilfe von Eseln geplant hatte. Angeblich wird eine Trasse nach oben so festgelegt, dass man einen Esel so schwer belädt, dass er kaum noch gehen kann. Dann treibt man ihn den Berg hoch. So entstehen die Serpentinen. Esel sind nämlich nicht so dumm wie oft behauptet. Sie verbergen ihre Intelligenz sehr geschickt.

Egal! Kein Esel könnte die etwa 70 km Serpentinen auf beiden Seiten des Berges hoch gelaufen sein. Das Fahrrad mit seinen 40 kg Gewicht konnte ich nur mühsam schieben. Fahren war nur an wenigen Stellen möglich. Nach einer Weile merkte ich, dass das Wasser zur Neige ging. Ich war allerdings so weit vom Fluss entfernt, dass ich ihn nicht mehr hörte. Da tat ich etwas, was mir meine Eltern streng verboten hatten, Klauen. Als ich an einem Feld mit Wassermelonen vorbei kam, schnitt ich eine ab und lud sie zu den 40 kg dazu.

Ab und an verließ ich die Straße und streifte durch den tollen Wald mit Pinien und anderen Nadelbäumen. Es passierte bei einem dieser Ausflüge, dass meine tolle geklaute Melone einfach den Berg runter trollte. Ich ließ das Fahrrad Fahrrad sein und galoppierte hinter der Melone her, die im Busch verschwunden war. Als ich sie wieder fand, lag sie zerplatzt in der Nähe eines Baches. Ich aß die traurigen Reste auf und ging zum Fahrrad. Da war meine kunstvoll verschnürte Ladung verrutscht. Ich hatte keine Lust mehr und auch keine Hoffnung, ein Dorf zu erreichen, wo ich hätte einkaufen können.

So beschloss ich, mein Zelt am Bach aufzustellen. Während der Arbeiten fiel mir ein, dass dies mein 18. Geburtstag war. Ich nahm mir vor, ein Lagerfeuer zu machen und die restlichen Sachen zu grillen. Dummerweise hatte ich nur noch etwas Käse und etwas Brot übrig. Tolle Geburtstagsfeier. Nicht mit mir. Ich bastelte aus dem Stahlseil meiner Bremse einen Haken, den ich an ein Stück Leine vom Zelt band, um zu angeln. Das war eine geniale Idee und kostete mich das restliche Brot. Die Fische sahen richtig amüsiert aus. So beschloss ich, die Viecher auf eine hinterhältige Weise zu fangen. An einer engen Stelle des Baches verengte ich ihn noch weiter, so dass mein Einkaufsnetz als Sperre dienen würde. Die größeren Fische würden darin hängen bleiben. Ach, ja.

Als der Abend kam, guckten die Fische noch lustiger aus der Wäsche. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Stückchen Käse und eine Tomate, die ich noch auf einem Feld gefunden hatte, feierlich zu verzehren. Wenigstens keinen Durst!

Den ersten Teil der Reise, der nicht zum Thema gehört, erwähne ich lieber nicht. Der hier wichtige Teil begann, als ich von der europäischen Seite der Dardanellen auf die asiatische wollte. Gelibolu heißt der Ort, die Europäer kennen ihn als Gallipoli. Dort hatte vor Jahrzehnten eine große Schlacht stattgefunden, deren Folgen heute noch zu spüren sind. Für uns wichtig war, dass der Großvater als Matrose die wohl größte Land/Seeschlacht aller Zeiten erlebt hatte. Er war auf einem Minenräumer Rekrut und half ein großes Seegebiet von Minen säubern. Sein Kommandeur war ein schweigsamer Mann und verriet niemandem, warum er in bestimmten Seegebieten Minen sammelte und diese nachts anderswo wieder verlegte. Später hatte Großvater verstanden, was der alte Herr vor hatte. Der Kommandeur hatte beobachtet, dass der Feind bestimmte Seegebiete säuberte und andere verminte. Er machte es umgekehrt.

Am 18. März 1915 früh griffen die vereinigten Seestreitkräfte des Britischen Reichs und Frankreichs die Dardanellen und die relativ schwache türkische Marine an. Sie hatte sich aber in den Schutz der Küstenbatterien begeben, die wild aus allen Rohren ballerten. Kein Problem für die größte Armada des 1. Weltkriegs, hatte Churchill gedacht. Da lief schon der Stolz der französischen Marine, Bouvet, auf eine eigene Mine und sank. Das gleiche Schicksal ereilte ein unwiderstehliches Schiff der Briten, Irresistable, und danach etliche weitere. Ein riesiges Inferno hatte begonnen. Dieser Tag und ein Minenräumboot hatten das weitere Schicksal eines der wichtigsten Politiker des 20. Jahrhunderts vorerst beschieden, von Winston Churchill. Mein Großvater erzählte bis zu seinem Tode, wie die 38-cm Geschosse über ihren Köpfe geflogen kamen. Nicht allzu gemütlich, wenn man auf einem mit Minen vollbeladenen Schiff sitzt. Am Ende musste Churchill mit den Worten zurücktreten: „Wie sollte ich wissen, dass unseren Armeen ein Soldat gegenüberstand, wie ihn die Geschichte alle Jahrhunderte nur einmal hervorbringt?“ Den damit gemeinten, Kemal Atatürk, und einen, der sich später zum größten Feldherren aller Zeiten GRÖFAZ proklamieren sollte, Hitler, hatte Großvater hier gesehen. Wahrgenommen wohl später, denn die Tage verdienten das Prädikat Inferno ohne Einschränkung.

Mein Tag in Gallipoli war hingegen ruhig. Noch lebten viele Taucher vom Heben der Wrackteile der Armada. Einer davon war der Neffe von meinem Vater, von dem mein Fahrrad stammte. Die Fähre, die uns auf die andere Seite brachte, war einst auch britisch gewesen. Irgendwo las ich auf einer Plakette einen Spruch, der mir bis heute gefällt: Wir sind die Toten der beiden Weltkriege. Dass wir nicht mehr Feinde sind, geben wir hiermit bekannt.

Diese Schlacht war beileibe nicht die erste hier, die früheren hießen Schlacht am Hellespont (321 vor Chr.) oder die Schlacht vom Hellespont (324 nach Chr.). Bei der letzteren handelt es sich um eine der allerwichtigsten Schlachten für die Geschichte des Christentums. Denn vor dieser Schlacht nannte sich der Mann, der das Römische Reich christlich taufte, Konstantin der Große, nicht Alleinherrscher und nicht so Groß. Danach schon. So machte er das Reich christlich - und vor allem meinen Geburtsort zu einem wichtigen Punkt in der Geschichte: Dort gibt es einen Palast, dessen Gärten „Kreuzgärten“ heißen, was nicht allzu aufregend klingt, und einen Bach namens Kreuzbach, auch nicht allzu aufregend, aber eine Moschee, die Kreuzmoschee genannt wird. Das allerdings ist wohl einmalig. Schuld war Konstantin, der dort hat ein großes Kreuz errichten lassen, um dem ungläubigen Volk zu zeigen, dass es sich um christliches Land handelte. Nun. ja. Christlich ist das Land nicht mehr, aber der Ort heißt immer noch Kreuz! Die Ungläubigen wähnen sich tief gläubig.

So nie wieder …

Die Planung der Reise, so man überhaupt von einer Planung sprechen kann, verlief chaotisch. An einem schönen Nachmittag, wir waren gerade von einer ausgiebigen Schwimmtour zurück gekommen, beschlossen meine beiden Freunde, mit denen mich die Liebe zum Schwimmen und Radfahren verband, und ich, eine etwas längere Tour als üblich zu fahren. Izmir hörte ich einen der beiden sagen. Warum denn nicht? Es waren nur etwa 1500 km zu fahren. Da wir am Tage zwischen 100 und 150 km in der Hügellandschaft fahren konnten, wären das etwa 10 bis 20 Tage. In jenen glücklichen Zeiten hatten die Schüler volle 4 Monate Sommerferien. Das war in der Türkei. Weder dort noch anderswo kann man heute den Sommer so genießen. Da waren 20 Tage im Sattel keine große Sache.

Leider anders das Geld. Es ist zwar immer eine große Sache, aber umso größer, je weniger man davon hat. So kam es, dass drei Tage vor der geplanten Abfahrt meine beiden Freunde die Segel strichen. Das stachelte mich erst recht an, die Reiseplanung voran zu treiben. Wo schläft einer, wenn er kein Geld hat? Im Zelt. Und wo bekommt man ein Zelt, wenn man kein Geld hat?

Man kauft sich genügend Stoff und näht sich ein Zelt. Das ist leicht gesagt. Das einzige Zelt, das ich kannte, war ein 6-Mann Zelt auf dem Camp der Armee gewesen, in dem wir mit 16 Jahren gewohnt hatten. Niemand aus meiner Umgebung hatte je in einem Zelt geschlafen. Na, denn. Ich machte mich an die Näherei. Meine Mutter, der die Nähmaschine gehörte, hatte zuerst Angst, dass ihr Gerät ruiniert wird. Als sie sah, was ich nähte, bekam sie erst richtig Angst. Wo soll der liebe Sohn zelten?

Ich verriet niemandem etwas. Als das Zelt fertig war, schlief ich eine Nacht im Garten. Vielmehr, ich versuchte zu schlafen. Denn ständig kam die Mutter vorbei und erzählte, dass sie mein Bett frisch bezogen hätte. Da draußen … da waren die Löwen oder die bösen Geister oder … was weiß ich was Schreckliches.

Als die Nacht erfolgreich zu Ende war, packte ich meine Sachen, belud mein Fahrrad und sagte Tschuess. Ich würde in 20 Tagen wieder kommen. Und was, wenn dich die Wölfe fressen? Können sie nicht, ich hatte mir ein großes Messer besorgt, das in seinem Futteral baumelte. Damit könnte man nicht nur Wölfe, sondern auch Drachen und ähnliches schlachten.

Auf der Fähre fragten mich die Leute, wo ich denn hin wolle mit dem komischen Gefährt. Die Türken kannten als Radfahrer auf großer Fahrt nur Deutsche, die damals nicht nur so kleine Hüpfer machten wie ich, sondern gleich 10.000 km nach Indien fuhren. Die Idee, so weit zu fahren, hatte ich von einem solchen Menschen, die man damals Chausseeflöhe nannte. Er hieß Conny und war von Darmstadt bis zu uns gefahren. Das geht noch. Aber das zweite Mal kam der Kerl mit zwei Fahrrädern. Auf das zweite hatte er ein Tonbandgerät geladen, ein Geschenk für die Gastfamilie! Eine unglaubliche Leistung.

Als die Leute auf der Fähre hörten, ich wolle nach Izmir, also noch weitere 400 km, lachten sie laut und sagten, ich solle lieber den Bus nehmen, auf den Berg käme ich wohl mit dem Fahrrad nicht hoch. Berg? Unsere Berge waren so Hügelchen, die zwar schwer zu erklimmen waren mit dem Rad. Aber spätestens nach einer Stunde waren wir oben. Also? Die Leute schüttelten die Köpfe. Das regte mich fürchterlich auf, so dass ich beschloss, nicht einmal Halt in Çanakkale zu machen. Gleich loslegen.

Der Berg heißt dort Kazdağı und ist eher ein Gebirge denn ein Berg. In der Antike hieß er Ida. Nicht zu verwechseln mit dem Berg Ida auf Kreta. Die olympischen Götter beobachteten vom höchsten Gipfel des Ida aus die Schlachten des Trojanischen Krieges. Der Berg war der Dame Hera heilig, die hier ihren Zeus verführte, um ihn von den trojanischen Kampfhandlungen abzulenken. Die olle Hexe wollte nämlich den Untergang Trojas, weil Paris bei seinem Urteil über die schönste Frau eine andere gewählt hatte. Dabei war der Kerl erst einmal Schafhirte.

Mir waren die ganzen Geschichten bekannt, weil ein Journalist die ganze schräge Baggage vom Olymp so toll beschrieben hatte, dass ich ein richtiger Kenner der Mythologie geworden war. Allerdings dachte ich, das Ganze wäre in Griechenland. Dass ich erlauchten Boden betreten würde, und das mit einem klapprigen Fahrrad, war mir nicht in den Sinn gekommen.

Ich trat mächtig in die Pedale, um möglichst schnell über den Berg zu kommen. Dabei hatte ich vergessen, dass ich kaum etwas zu essen gekauft hatte. Damals konnte ich allerdings auch einen ganzen Tag ohne Essen auskommen. Zu trinken gab es genug, damals konnte man nämlich seinen Durst mit Wasser aus Bächen und Flüssen stillen. Aber langsam dämmerte mir, dass die zurückgelegte Strecke gering war gemessen an dem, was mir noch bevor stand. In Märchen heißt es, dass einer Tage und Nächte marschiert, aber beim Blick zurück erkennt, dass er gerade mal ein Gerstenkorn weit gekommen ist. Komische Märchen sind das.

Der Berg Ida beherbergt 15 endemische Pflanzenarten, darunter eine Baumart, aus deren Namen man Historisches heraus hören kann, Abies nordmanniana subsp. equi-trojani. Dieser Baum ist mit unserem Weihnachtsbaum verwandt und tut, was der an seinem Lebensende - manchmal auch früher - tut, nadeln! Die Piekser bedeckten die Stelle, die mein Schlafgemach werden sollte. An sich kein Problem, wenn man auf einer Matte schläft. Da ich das Zelt aber sehr künstlerisch frei gestaltet hatte, konnte ich mich nicht ganz auf der Matte platzieren und lernte daher, was pieken heißt. Das ließ sich noch ertragen. Aber Nadeln gegen Ende des Sommers bedeuten noch etwas, was ich noch lernen sollte.

Ich baute mein Zelt auf und stellte Steine zusammen, um ein Feuer zu machen. Als die Nacht kam, fühlte ich mich richtig betrunken durch die frische Bergluft. Es kam weder ein lebender Schafhirte vorbei, noch Paris, der einst auch Hirte gewesen ist auf dem Berg Ida. Auch die Götter waren mir nicht hold. Wahrscheinlich hatten sie eigene Probleme mit ihrer Götterspeise.

Als ich mir überlegte, ob ich das Feuer ausmachen solle, halfen mir doch die Götter auf die Sprünge - und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ein paar Funken sprangen über meine Feuerstelle und setzten die Tannennadeln in Brand. Zum Glück hatte ich noch die Decke draußen. Mit einem Hechtsprung erwischte ich das Feuer und deckte es zu. Dann goss ich reichlich Wasser drüber. Mit der nassen Decke wurde es eine urgemütliche Nacht.