Der nächste Morgen sah mich emsig packen. Die Nacht war grauselig gewesen wie nie. Ich hatte jedes Blatt, ja jede Tannennadel gehört, die zur Erde hinab geschwebt war. Göttinnen waren nicht vorbei gekommen, Schäfer auch nicht. Vielleicht Zeus, der nach der Cassandra suchte , um ihr eins auszuwischen.

Seit dieser Nacht weiß ich es genau: Fühle ich mich unsicher, schlafe ich wie ein Kaninchen. Wo ich mich sicher fühle, können auch nicht die Trompeten von Jericho mich wecken. 

Immerhin hatte ich die erste Nacht meines Lebens in der Wildnis verbracht, und kein böser Geist aus der Iliade hatte sich getraut, mir ein Schnippchen zu schlagen. Die Strahlen der Sonne wärmten mein Fell. Und ich vergass den Bärenhunger, der meinen Magen hätte quälen sollen. Das kühle frische Wasser vom Bach hatte den Hunger vertrieben.

Nach etwa zwei Stunden, menschliche Spuren … Ich war bei Leuten gelandet, von denen ich nur im Geschichtsunterricht gehört hatte: Eine Kamelkarawane, angeführt von einem Esel, wie es sich gehört, und vielen vielen Kamelen. Noch nie hatte ich im Leben ein solches Vieh gesehen. Kamelwurst gegessen schon. Der Esel stand in der Prairie, die Kamele lagen im Gras, und die Männer bereiteten ein Mahl mit getrockneten Feigen. Feigen kannte ich schon, aber nicht den Namen, den diese Männer dafür benutzten. Obst heißt das Zeug, was bedeutet, dass diese Männer als Obst erst einmal Feigen kannten. Übrigens, Kamelkarawanen sind aus dieser Gegend nie ganz verschwunden. Die transportieren aber nur noch Touris.

Mit dem Frühstück von der Karawane gestärkt, düste ich Richtung Gipfel. Die Männer hatten erzählt, die Bergspitze, d.h. die höchste Stelle der Straße, wäre nicht weit. Ich schob, und schob, und schob … Bis ich das Wunder erblickte: Die Ägäis bis hin nach Lesbos, deren Hauptstadt Mitilini ich gesehen zu haben glaube. Das sollte man vielleicht lieber nicht glauben, denn ich hatte bereits Halluzinationen von Höhenluft (kann das sein bei etwa 1500 m ü.M.?) und Hunger (kann durchaus sein, weil ein Stückchen Käse nicht lange vor Geistern schützt).

Was auch immer - ich ließ das Fahrrad laufen, so schnell wie es konnte, meisterte Serpentinen, allerdings weniger meisterlich, und düste mit Zelt und allem drum und dran in die Ägäis. Die Leute sahen mich an, als wäre ich vom Mars hierher geflogen. Ich aber lag erst einmal im Meer und ließ die Blubber aus meinen Vorräten und Gepäckstücken hoch steigen. Die Götter waren mir erst einmal egal. Ich war in Küçükkuyu, dessen Name bedeutet „kleiner Brunnen“. Dort gibt es Dutzende artesische Brunnen, was ein Geschenk der Götter ist. Übrigens, um so etwas zu sehen, muss man nicht in die Mythologie, auch in Dresden gibt es so ein Ding. Ich glaube, auch in Mainz.

Das Besondere in dieser Gegend ist aber, dass die Leute damals keinen Kühlschrank betrieben, sondern die Sachen einfach unter den Wasserstrahl legten. Was das ausmacht? Neulich erklärte mir meine Mutter, in unserem Wardian Case, also einem Kasten, in dem die Pflanzen jahrelang selbstständig leben können, die Farbe der Blüten der Usambara Veilchen frischer aussah. Das hatte sie derart beeindruckt, dass die Erinnerung an die Farbe für Jahrzehnte hielt. Das frische Wasser aus der Erde wirkt eben anders als der gequirlte Mief im Kühlschrank. Noch ein Wort zum artesischen Brunnen: In der Nähe von Alice Springs kommt das Wasser aus Neuguinea hoch, 3000 km weiter, 500.000 Jahre später und hilft der Wüste, die schönsten Auberginen der Welt hervorzubringen.

Eine durchaus lustige Nacht

Als das Lagerfeuer erloschen war, wurde die Nacht recht dunkel. So etwas hatte ich noch nie erlebt, weil ich in einer der größten Städte der Welt aufgewachsen war. Meine Koordinaten hatten sich immer in der Nähe der lieben Eltern befunden, und die Wildnis kannte ich hauptsächlich aus Western. Zum Glück gab es auf dem Berg Ida keine Klapperschlangen. Aber was ist mit dem Tiger? Man las öfter in der Zeitung, Jäger hätten wieder einen Tiger geschossen. Bevor ich mir schlimmere Sorgen machte, fiel mir ein, dass die Tiger viel weiter südlich lebten, in der Nähe von Ephesus. Sie sind zudem keine Tiger, sondern anatolische Leoparden. Allerdings soll diese Art die größte Art von Leoparden sein. Brrrr!

Ich zog mich in mein Zelt zurück und versuchte zu schlafen. Geht nicht! Tiger, marodierende Schafhirten, heulende Wölfe und viel Getier raubten mir den Schlaf. Gerade als ich eingenickt war, wurde ich von bösen Händen in einen steifen Stoff eingewickelt. Als ich aufwachte, merkte ich, dass ich das Zelt zum Einsturz gebracht hatte.

Nun setzte ich mich an den Bach und versuchte, die Fische mit der Hand zu fangen. Njet! Die Biester lassen einen nie in ihre Nähe. Dabei können, wie man im Film sieht, auch dumme Bären Fische fangen. Bären? Aua, vielleicht gibt es hier welche! Schnell das Messer holen und das Feuerzeug bereit halten. Die wichtigste Waffe von Männern, mit der sie ihre Liebsten am Lagerfeuer schützen, das Schnarchen, konnte ich noch nicht. Aber das Messer würde reichen, wie ich das aus den Abenteuern eines Herrn, ll Grande Blek, gut kannte. Blek war ein Trapper, der ganz Amerika beinah allein mit der Kraft seiner Fäuste von den Engländern befreite. Er hatte zwar eine Flinte in der Hand, schoss damit jedoch selten. Er arbeitete hauptsächlich mit dem Messer. Kann ich doch auch, wenn der Bär kommt?



Die Geschichten über Göttinnen und Hirten auf dem Berg Ida nehmen kein Ende. Der berühmteste Hirte war wohl Paris, Sohn des Königs Priamos von Troja. Warum dieser auf die Idee kam, von seinen 100 Kindern gerade Paris in die Wüste, Pardon, auf den Berg zu schicken, erzählt die Mythologie so: Als seine Mutter Hekabe mit ihm schwanger war, hatte sie einen bösen Traum. Hekabe träumt vor der Geburt des Paris, sie gebäre eine Fackel, die Troja in Brand steckt. Nachdem sie Priamos von dem Traum erzählt hat, lässt dieser den Aisakos zu sich kommen, der die Fähigkeit besitzt, Träume zu deuten. Aisakos sagt, Hekabe werde einen Sohn gebären, der eines Tages Trojas Verderben herbeiführen werde. So ließen sie ihn aussetzen. Allerdings starb der Säugling nicht, weil er von einer Bärin aufgezogen wurde. Eine neue Variante von der Aufzucht von Menschen durch Tiere. Mogli wurde ja wie der Urtürke und die Ur-Römer Remus und Romulus von Wölfen aufgezogen. Paris von einer Bärin … Kennt jemand einen Gott oder einen Promi, der von einer Eselin gesäugt wurde?

Schon wieder Wolf und Bär. Zum Glück fielen die Tierchen mir auf dem Berg nur als fiktive Gefahren ein. Sonst wäre ich in der Nacht weggaloppiert. Fragt sich, wohin?

Wie der Paris so seine Tage auf dem Berg Ida als Hirte durchbringt, kommt eines Tages Hermes, der Götterbote vorbei gelaufen und bringt ihm einen hinterhältigen Auftrag: Paris soll auswählen, wer von drei Damen die schönste ist. Die aber sind nicht ohne. Die erste hieß Hera und war die Gattin des Chefs. Sie versprach Paris Macht, um ihn zu bestechen. Die zweite war Pallas Athene, die Kuhäugige, die ihm Ruhm versprach. Die dritte war aber trickreicher und versprach ihm die Hand der schönsten Frau der Welt - wohl wissend, dass die Dame verheiratet war. Die Dummbacke fällt auf den Trick herein und wählt diese, die Aphrodite, zur schönsten der drei Göttinnen. Hera kann es nicht verknusen und lässt am Ende Troja untergehen. Honi soit qui mal y pense …

Paris muss aber noch seinen Lohn, die schöne Helena, beim Gatten Menelaos abholen. Das geht nicht ohne Krieg ab, weil der gehörnte Gatte nicht irgendwer ist, sondern Bruder von König Agamemnon. So nimmt der Trojanische Krieg seinen Lauf unweit der Stelle, an der ich mit hungrigem Magen und flatternden Knien meinen 18. Geburtstag feierte. Hand auf´s Herz - Götter und 18. Geburtstag? Und das im Schatten des großen Zeus, dessen Observatorium des Trojanischen Krieges kein geringerer als Schliemann entdeckt hat. Übrigens, der Ort wird von den Türken als Heiligengrab geehrt. Wenn die wüssten, was für einen Lebenswandel der geführt hat! O, Gott, o, Gott!

Die Nacht wäre viel lustiger geworden, hätte ich nur gewusst, wer alles hier einst umgeisterte. Zum einen die Götter, die als Zaungast beim Krieg der Griechen gegen die Trojaner den Berg bevölkert hatten. Die müssen hier volle zehn Jahre kampiert haben, glaubt man Homer und seiner Iliade. Lange vor denen hatte hier sogar die vorgriechische Mutter-Gottheit gewohnt. „Da“ nach I bedeutet Berg, insgesamt Berg der Göttin. Noch heute klingt das türkische Wort für Berg wie Da, wird nur anders geschrieben.

Eine andere Göttin, diesmal eine echt-griechische, hat sich hier von dem schönen König Anchises, dem von Dardania, einem Spross aus altem trojanischem Königsgeschlecht, verführen lassen. Er war Bruder des Laokoon - ja, der, der eine Dame im Tempel des Apollon verführt haben soll, was zu den Schlangen auf seinem Haupt geführt hatte. Die von dessen Bruder verführte Göttin hieß Aphrodite und hatte eine ziemlich blubberhafte Vergangenheit. Sie war auf Zypern aus Schaum geboren worden. Wie sie auf den Berg Ida kam, vor allem die Idee hatte, als Hirtin durch die Gegend zu streifen, entzieht sich meiner Kenntnis. Auf jeden Fall war die Aphrodite Mutter des trojanischen Helden Aineias, die sich aber nicht unbedingt zu ihm bekennen wollte, weil sich Aphrodite einer Liebe zu einem Sterblichen schämte, derer sie sich nicht erwehren konnte. Deshalb verbot sie dem Geliebten, anderen davon zu berichten. Im Rausch übertrat er jedoch das Verbot und wurde deshalb von einem Blitz des Zeus gelähmt (und/oder geblendet). Ausgangs des Trojanischen Krieges musste Aineias ihn auf seinen Schultern aus dem brennenden Troja tragen. Er soll auf Sizilien gestorben sein. Sein Ende soll allen eine Lehre sein, die mit Weibergeschichten prahlen.


Auf die lustige Nacht sollte eine nüchterne folgen. Ich zog in eine Herberge ein, in der nicht nur Menschen übernächtigten. Auch Bauern mit ihrem Vieh und ihren Reittieren (meistens Esel) suchten hier Unterschlupf in der Nacht vor dem Wochenmarkt. Die Zimmer - für Menschen - befanden sich oben und über den Stellplätzen der Tiere. Das sorgt im Winter für Wärme und im Sommer zusätzlich für Odor. Kein Mief der Welt kann es mit dem Schweiss von Ziegen und Kühen aufnehmen, die einen Tag in der Sonne marschiert sind. Vielleicht das, was die Maultiere von sich geben, wenn man damit den Grand Canyon hoch reitet. Hinten raus, und mit Schmackes! Dufte!

Nach der tollen Nacht am Bach war mir der Duft der großen weiten Tierwelt derart egal, dass ich erst einmal etwa 30 Stunden geschlafen habe, bevor ich die ersten Fühler in die Umgebung ausstrecken wollte. Ach ja, ich hatte auch vergessen, dass ich fürchterliche Angst vor Haien hatte, die nach meiner Meinung erst südlich der Dardanellen vorkommen sollten. Die Angst verflog erst, als die Fischer bei uns zu Hause einen riesigen Hai fingen, der einige Jahre auf Jahrmärkten zu sehen war. Sieben Meter lang soll er gewesen sein. Vielleicht haben sie ihn etwas gestreckt. Auf jeden Fall schwamm ich einige Tage in Küçükkuyu und träumte davon, nach Lesbos zu schwimmen. Sah ja so nahe aus. Schlappe 28 km sind es. Ein Katzensprung! Aber Katzen schwimmen nicht. So blieb ich erst einmal in dem winzigen Dorf. Und das Dorf blieb lange so, wie es war.

Vier Jahre später: Das Dorf hatte sich immer noch nicht zu einem Touri-Center gemausert. Daher konnte man dort billig leben. So etwa 50 Pf die Nacht und 30 Pf den Tag, wenn man es schafft, zwei Doraden zu fangen. Die 30 Pf waren der Preis für ein Laib Brot. Da die Doraden nicht die geringste Lust hatten, sich fangen zu lassen, mussten wir an manchen Tagen einer üblen Methoden greifen. Wir schossen Meeräschen vom Boot aus mit der Harpune. Einmal hat uns ein Dörfler sogar eine Schrotflinte geliehen, damit wir unseren Mittagstisch auf eine etwas einfachere Art fangen konnten. Bumm!

Und die Qualität der Herbergen wurde nicht in Sternen angegeben, sondern in Eselsköpfen. Fünf Köpfe, kein Schlaf, ein Kopf, IA, gelegentliches IA vor dem Morgengebet. Dafür hatten wir beim Reiten freie Wahl, bis der Besitzer des jeweiligen Esels sein Vorrecht zur Geltung brachte. Die Einrichtung des Zimmers wurde ein einziges Mal in meinem Leben getoppt. Das war in Bulgarien. Das Zimmer hatte nicht nur kaum ein Dach drüber, sondern war auch nach unten offen. Ein Plumpsklo im dritten Stock.! Dieses Zimmer hatte aber Stil. Am Nachmittag gab es fließend Warmwasser, weil sich unser Trinkwasser so weit erwärmte, dass man damit Nescafé rühren konnte. Und die Beleuchtung!

Die nächtliche Disco und Karaoke für Ballermänner harrten noch ihrer Erfindung. Dennoch fanden wir das Dorf derart interessant, dass ich diese Geschichte schreibe, nachdem ich mehr als die Hälfte der großen Metropolen der Welt gesehen habe. Um dies hier zu erleben, muss man heute weit weit weg fahren.