Wie viele Religionen verträgt eine Stadt?

 

Der Ort, an dem das Schicksal der Christenheit an einem Buchstaben hing, Nicäa, ist nur einen Ritt am Vormittag von der Stelle entfernt, an der das Osmanische Reich gegründet wurde. Zum Palast des Konstantin, der das Konzil dorthin berufen hatte, sind es etwa vier Tagesritte. Da die Herrschaften aus Konstantinopel eher mit der Kutsche angereist sein dürften, als sie zum Konzil, dem ersten ökumenischen, anreisten, muss die Reise wohl etwas länger angedauert haben. Apropos Buchstabe. Es ging um das Verhältnis von Jesu und Gott. Die einen Streithähne sagten, Jesus sei „wesensgleich“ mit Gott (ομοονσιοσ (homoousios)), während die Gegenfraktion behauptete, er sei nur wesensähnlich (ομοιονσιοσ (homoiousios) mit Gott. Unterschied: Ein „i“. Ein gewisser Arius wollte nicht akzeptieren, dass Jesus Gott gleich war. Da er verloren hat, können sich seitdem Christen und Muslime nicht einigen. Just hier, am Vorhof der heutigen Stadt Istanbul, fing der Schlamassel an, der immer noch nicht aufhören will.

Vielleicht, vielleicht wäre die Sache anders ausgegangen, wäre das Konzil echt „ökumenisch“, also unter Beteiligung von Muslimen und Juden. Na, ja. Muslime gab es noch nicht, weil Mohammed noch ein paar Jahrhunderte auf seine Geburt warten musste. Und die Juden? Für die war Jesus ein jüdischer Rabbi und nicht einmal ein Prophet. Der Islam ist die einzige monotheistische Religion, die Jesus als Prophet ansieht.

Istanbul liegt an einer Stelle, wo die Herde von großen Konflikten nicht an den Fingern beider Hände gezählt werden können. Aber Konflikt hin, Konflikt her. Als der Islam aufkam, soll dort die erste Moschee in Südostasien gebaut worden sein - anno 718. Bis zur Eroberung durch die Osmanen waren es noch 735 Jahre.

Zu den ausscherenden Kirchen gehörte die Armenische Apostolische. Der große Bruch kam aber im Jahr 1054, Großes oder Griechisches Schisma. Die hohen Herren der römischen und der griechischen Kirche haben sich gegenseitig exkommuniziert. Wann und wie die Sache weiterging, muss hier nicht aufgeklärt werden. Die Bannung wurde erst 1965 von zwei Herren aufgehoben, die ich beide in Istanbul live gesehen habe: Papst Paul VI und Patrik Athenagoras. Ihre Erklärung trugen sie aber getrennt in Rom und in Istanbul vor.

Was hat das alles bitte mit Istanbul zu tun? Viel. Allein die allerletzte Abspaltung der orthodoxen Kirche, die Bulgarisch Orthodoxe, hat in Istanbul ein Artefakt ohnesgleichen hinterlassen: Die einzige eiserne Kirche der Welt. Warum steht die aber nicht in Bulgarien? Weil die Bulgaren ganz ganz nahe beim griechischen Patriarchen sein wollten. In Fener am Goldenen Horn thront oben der Patriarch der Griechen, unten am Wasser steht Sankt Stefan, die einzige Kirche, die nach einer Kreuzfahrt ihren Standort gefunden hat. Sie wurde in Wien gegossen, über die Donau und das Schwarze Meer nach Istanbul verschifft, um dort zusammen geschraubt, gelötet oder geschweißt zu werden.

Chronos bis Muhammed

Sind Religionen der Rede Wert, wenn sich die Zahl von Atheisten zwischen den Jahren 1900 und 2000 von 0,2 Millionen auf 150 erhöht hat, oder die der Unreligiösen von 3 auf fast 800 Millionen? (Die Zahlen stammen von einem gewissen Stefan Wittmann, der sie mit seinem Gewissen vereinbaren muss. Ich habe die Leute nicht abgezählt. Aber 'World Christian Encyclopedia' der 'Oxford University Press' soll sie verwendet haben) Vielleicht doch, haben doch die Christen ihre Zahl in diesem Zeitraum vervierfacht, die Muslime sogar verfünffacht.

Egal. In Istanbul gehen die Uhren anders, weil hier lange Zeit religiöse Zugehörigkeit und Ethnie eins waren, wegen der Steuer. Da der Begriff „Nation“, den die Französische Revolution hervorgebracht hat, erst im 19. Jahrhundert seine Geburtswehen hinter sich gebracht hatte, kannte der Sultan nur „millet“, also Völker. Zwar benutzt der heutige Staat auch das Wort „millet“, aber in der Bedeutung, dass es sich um seine Staatsbürger handelt. Es gibt nur ein millet, früher ab es viele, und das mit Absicht.

Die millet konnten muslimisch oder nicht muslimisch sein. Den Unterschied machte die Steuer und noch was. Die Muslime konnten sich freier bewegen. Das hat z.B. das millet der Albaner ausgenutzt, als es nach langem Widerstand den Islam angenommen hatte. Die Albaner besiedelten langsam Kosovo unter osmanischer Herrschaft. Heute sitzt die internationale Gemeinschaft in der Tinte: Wem gehört das Land? Denen, denen es gehört hat oder besser der aktuellen Bevölkerungsmehrheit?

Die Osmanen waren in erster Linie Türken, und diese waren wenige Jahrhunderte vor der Gründung des Reichs in Asia Minor anderen Religionen zugetan. Es soll sogar ein jüdisches türkisches Volk geben. Hauptsächlich waren die Türken aber Schamanisten. Den Namen ihres Gottes, tengri, sprechen sie heute so aus, als wäre er Allah, doch der Berg, wo der wohnte, Tengri Dag, besser bekannt unter seinem chinesischen Namen Tien Shan, steht in Kirgizien kurz vor der Taklamakan Wüste und nicht auf der Halbinsel Sinai. Sie hatten Totems und nicht den einzigen Gott, der die Himmelsleiter von Palästina aus erklommen hat. Im Verlaufe ihrer Geschichte dürften die Türken, d.h. die Turkvölker,  fast alle sogenannten Universal- oder Weltreligionen praktiziert haben, d. h. Buddhismus, Manichäismus, Christentum, Judaismus und Zoroastrismus. Oder sie lebten ihr Ding und ließen Gott einen netten alten Mann über den Wolken sein.

Eines dieser Völker hat in der Nähe von Byzanz, wirklich in der Nähe, angefangen, die Macht an sich zu reißen. Das begann A.D. 1299 mit einem gewissen Osman, dessen Vater Ertugrul schon gegen Byzanz arbeitete. Der hat dann die Dynastie gegründet, deren Ende 1922 durch die Flucht des letzten Sultans aus Istanbul besiegelt wurde. Was war das aber für ein Land? Ich meine, religionsmäßig? Weiß ich nicht, niemand weiß es.

Und wenn es jemand wüsste? Ich müsste es wissen, weil mein Vater am Entstehungsort des Reichs seinen Militärdienst abgeleistet hatte. Trotzdem weiß ich es nicht. Jedenfalls hat ein kleines Volk, das einen Glauben angenommen hatte, den Islam, ein aus seiner Sicht riesiges Terrain mit Allem, was heute in Europa Kulturgeschichte heißt, begonnen, zu beherrschen. Und das Erbe des Römischen Reichs!

Wäre das noch zu stemmen gewesen, wäre noch zu überlegen, was die Römer z.B. als Religion hatten. Was wohl? Deren oberster Gott Jupiter hatte seinen Dienst als Zeus begonnen, seine Frau Juno als Klon von Hera. Und die Göttin der Schönheit, Aphrodite, wird heute repräsentiert als ein Krüppel, der „Venus von Milo“ heißt. Wie schön wäre sie, hätte sie noch die Arme dran! (Wirklich?)

Wenn sich das mächtige Römische Reich derart mit früheren Blättern aus kulturellen Lorbeeren schmückt - Was macht ein neues Volk, das in einem Dorf entstanden ist? Das weiß ich auch nicht. Was ich weiß: Kein Volk kann sich aus der Vergangenheit des Raums lösen, wo es zu leben beginnt. Aphrodite war nicht eine reine Schöpfung der Griechen, sie lebte als Astarte bereits bei den Phöniziern und Semiten. Auch die restlichen Götter der Griechen, die später römisch wurden, hatten andere Vorfahren. Daher sollte man m.E. die Türkei als Ergebnis aus 12.000 Jahren westliche Zivilisation, und Istanbul als 8.000 Jahre dessen Zentrum ansehen. Was im weiter Osten war, davon haben wir keine Ahnung. Die Türken schon, denn sie waren auch am anderen Ende tätig, in China, Indien, Afghanistan.

Was daraus folgt, kann man in etwa abschätzen, wenn man weiß, dass sich 97% der Bewohner von Ägypten als Ägypter einschätzen, obwohl die einen richtig schwarz sind und andere schön europäisch weiß, während die Bewohner der heutigen Türkei recht gespalten auf die Frage antworten würden, wer denn Türke ist. Und das hat doch was mit der Religion zu tun.


Im Konzil von Chalcedon, heute Stadtteil Kadıköy, spaltete sich die Koptische Kirche im Jahr 451 von der Reichskirche ab. Die Kopten wurden erst nach 1517 wieder aus Istanbul regiert - der Sultan hatte Ägypten erobert. Und damit die Macht des Kirchenoberhaupts der Muslime. Bis 1922 währte das Kalifat.

Das Ausscheiden der Kopten und der altorientalischen Kirchen war noch erträglich gewesen gegen den sich anbahnenden Streit mit dem Bischof von Rom alias Papst, der die Abschaffung des Primats des römischen Bischofs über die Gesamtkirche nicht akzeptierte. Die Päpste bestehen daher bis heute auf dem Primat des römischen Bischofs über die Gesamtkirche, der bis heute von den orthodoxen Kirchen abgelehnt wird. Sultan Mehmet II, der Konstantinopel eroberte, verdankt seinen Erfolg auch ein bisschen diesem Streit: Die griechischen Bischöfe wollten lieber „den Turban des Sultans als die Tiara des Papstes“ in der Stadt sehen. So lehnten sie die Hilfe der Brüder aus Venedig ab, für die sie nur eine Kleinigkeit hätten abgeben müssen: Ihren Glauben. (Bitte keine Parallelen zu den Verhandlungen der EU über den Schuldenschnitt für Griechenland ziehen. Die sind bereits da.)

Wer glaubt, dass mit dieser Aufzählung die „Religionen“  in Istanbul voll beschrieben wären, der irrt. Denn der Papst der Muslime, der Kalif, war nur der für die Sunniten. Diese stehen nicht nur auf dem Kriegsfuss mit den Schiiten, sondern auch mit den Aleviten. Diese sind zwar Muslime, und wohl Schiiten, haben aber mit beiden, sagen wir mal, Probleme. Ein solches ist die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen bei kultischen Handlungen. Wenn man sich so anschaut, was die anderen Muslime mit Frauen machen, z.B. Wahabiten in Saudi Arabien (dürfen nicht Auto fahren, müssen verschleiert rumlaufen etc.) oder Schiiten im Iran (muss ich das erklären?) oder in den Arabischen Emiraten (Burka mit doppelter Tüllgardine vor den Augen), kann man schon verstehen, dass man das Alevitentum als eine Fortsetzung von Sodom und Gomorra versteht.

Ich weiß nicht, wie es um die Aleviten woanders steht, in Istanbul jedenfalls sind sie wesentlich sicherer als sonst im Land. So soll jeder dritte Alevit der Türkei in Istanbul leben. Und der Grund, warum viele Menschen Baschar al-Assad nicht fallen lassen, ist die Angst davor, dass die Aleviten auch in Syrien der Unterdrückung ausgesetzt werden. Alevit zu sein in der Türkei, ist nicht gerade leicht.

Noch was zu Religionen: Die wohl berühmteste Soldatenschule, die Janitscharen, bestand aus christlichen Kindern, die von Bektaşi aufgezogen wurden, eine Richtung der Aleviten. Später, als sie keine Krieger mehr waren, ich meine als Pensionäre, zogen sie in ihre Länder wie Makedonien, Kosovo oder Albanien und verbreiteten dort den Glauben. Die Geschichte mag verdeutlichen, wie komplex die Gesellschaft war: Der Sultan der Osmanen, ein Sunnit, lässt christliche Kinder einziehen, und überlässt die Erziehung zum „Türken“ einer Sekte, die den Sunniten ganz und gar nicht geheuer war. Diese mehren als Soldaten die Macht des Sultans, kehren aber in ihre frühere Heimat zurück, die die Macht des Sultans nicht immer mochte. Dort wirken sie immer noch nach.

Zu guter letzt, es gibt auch Aleviten, die Kurden sind, und andere, die Turkmenen sind. Und Turkmenen sind echte Türken. Deren Heimat liegt weit im Osten, wo die Macht des Sultans oder des byzantinischen Kaisers nicht hinreichen konnte. Die Türken in der Türkei stammen aus einem Stamm der 12 Linien der Oguz ab. Es gibt aber noch viel mehr „Türkvölker“, z.B. in Nordost-Sibirien, in Xinjiang, wovon Teile Turkestan oder Uiguristan heißen. Und von dort leben nicht wenige Menschen in Istanbul.

Na und? Während sich der Rest der Welt fröhlich dem Fernsehen oder anderen sinnvollen Beschäftigungen widmen kann, muss sich Istanbul mit der Frage beschäftigen, wie man das vermaledeite Priesterseminar auf Heybeliada (eine der Prinzeninseln) wieder öffnen kann. Das ist aber nicht irgendein Seminar, sondern die Ausbildungsstätte für die höchsten Ränge des Klerus der griechisch-orthodoxen Kirche. Und was hat die in Istanbul verloren? Wer das noch nicht gemerkt hat, soll von Anfang an wieder lesen: Hier in Istanbul oder von hier aus mit sieben Konzilien wurde das Christentum geschaffen. Daher sitzt das Priesterseminar da wo es sitzt.

Nun wären noch die weiteren Abkömmlinge, z.B. die Armenische Apostolische Kirche. Wo bleibt die? Dort, wo sie entstanden ist. Also in Istanbul, fussläufig erreichbar von Fener aus. Das Zentrum der Bulgarischen Orthodoxen Kirche hatte ich ja schon erwähnt. Man muss von den griechischen Patriarchat hierhin nicht mal in die Pedale treten, wenn man auf dem Fahrrad sitzt. Einfach den Berg runter.

Und die Katholen? Die haben ihren angestammten Sitz nie ausgegeben. Beyoglu, der früher feinste Ort zum Ausgehen, heißt so, weil dort der Abgesandte des Duce von Venedig saß. Der Duce hieß Bey, was so viel wie Herr bedeutet. Ob man glaubt oder nicht, gegenüber der Hauptstadt eines Weltreichs, Byzanz, befand sich eine Kolonie der, sagen wir mal, Italiener. Einen der berühmtesten Punkte der heutigen Stadt haben die Genuesen gebaut, den Galata Turm. Drum herum wurde in den 1970ern noch Italienisch gesprochen. Und der Sohn von Bundeskanzler Kohl hat ganz in der Nähe eine Türkin in einem katholischen Gotteshaus geheiratet. San Antonio di Padua heißt die Kirche. Antonius, ein  Heiliger, geboren in Lissabon, gestorben in Padova.

Die protestantische Kirche spielte nicht die große Rolle in Istanbul, weil sie nicht in der Geschichte des Landes verwurzelt ist. Sie bietet aber eine Vielfalt, wie sie in anderen Ländern kaum anzutreffen sein wird.  Neben der Deutschen, Holländischen und Schwedischen Protestantischen Kirchen gibt es sogar eine Armenisch-Protestantische.

Auch die abtrünnigen der Abtrünnigen dürfen nicht fehlen, die Anglikanischen.

Für die letzte Reise eines gläubigen Juden wird eine Synagoge in der Nähe empfohlen, die der Ashkenazim. Natürlich haben die spanischen Juden, Sephardim, auch ihre Tempel, aber auch die italienischen (Kal de los Frankos) , die makedonischen (Ahrida), die bulgarischen (Yanbol) …

Wenn man von Fener aus etwa zwei Kilometer das Goldene Horn aufwärts läuft, kommt man in Eyüp an. Der Name ist die türkische Version von Abu Ayyub al-Ansari bzw. أبو أيوب الأنصاري, der Name des Mannes, der Fahnenträger von Mohammed war. Er soll bei einer der zahlreichen Belagerungen von Byzanz vor der Mauer gefallen sein. Heute ist das Grab eine Pilgerstätte - übrigens können in seiner Moschee alle Menschen einem islamischen Gebet beiwohnen. Sonst werden die Touris während des Gottesdienstes vor die Tür gesetzt (was mir auch im Petersdom passiert ist), hier nicht.

Wenn man zu dem Ganzen noch den Sitz des Kalifen hinzu zählt, kommt man auf mindestens vier „Päpste“, also Kirchenoberhäupter, die zur gleichen Zeit in Istanbul geherrscht haben. Heute ist nur der Kalif weg. Der Mantel des Propheten, Hırka-i Şerif, der dessen Legitimation war, ist noch im Topkapı Palast.

Ich hoffe, ich konnte die Kompliziertheit des religiösen Gefüges, das zu dem heutigen Istanbul geführt hat, einigermaßen deutlich machen. Wer sich für Glauben und Religionen interessiert, findet in Istanbul reichlich Nahrung. Auch wenn die Skyline der Stadt früher von Moscheen und heute durch Bürotürme geprägt wird, in deren Schatten blühen viele viele Denkrichtungen, deren Tempel man leicht ausfindig machen kann. Selbst Chronos dürfte noch einigermaßen lebendig sein. Zeus und Zarathustra allemal.

Wie mächtig die - unbequeme - Denke dieser Stadt war, kann man daran erkennen, dass wenige Tausend, die 1453 nach der Eroberung durch die Osmanen die Renaissance in Europa ausgelöst haben. Sie ist die danach letzte Bastion des Islam gewesen, deren Macht einst bis Wien reichte. Da hat
sich allerlei Denke angesammelt. Kaiser und Sultane, die vom Volk umgebracht wurden,
haben erfahren, wie unbequem diese Denke sein konnte. Leider zu spät.

Die schönste Zeit für mich war aber zwischen 1718 und 1730. In dieser Zeit züchteten
die Osmanen Tulpen und ließen das Kriegshandwerk ruhen. Unendlich viele Gedichte
und Lieder schrieb man und ließ es sich gut gehen. Und die Tulpe aus Amsterdam?
Die sind aus Istanbul in die Niederlande gekommen. Ohne religiöse Hindernisse.