Die Berge nach Mazedonien
Auch wenn Sofia nicht allzu alt ausschaut, soll die Stadt von 7.000 Jahren gegründet worden sein. Damals gab es hier keinen Eisernen Vorhang, auch keine Bulgaren. Diese kamen im Zuge der ersten Völkerwanderung aus der selben Gegend wie die Hunnen, Awaren und Türken. Bei den Bulgaren handelte es sich um ein kriegerisches Turk-Volk, und Bulgarien war hauptsächlich von Slawen bewohnt. Die Slawen hatten sich der Religionsgemeinschaft der christlich orthodoxen Kirche angeschlossen, die in Chalcedon, ganze zwei Kilometer von meinem Abfahrtsbahnhof Sirkeci, entstanden war - im Jahre 451 während des dortigen Konzils. Während die anderen Turk-Völker nicht nur schön kriegerisch, sondern auch noch dickköpfig waren, so dass man heute noch Integrationsprobleme mit ihnen beklagt, haben sich die Bulgaren die Sprache und die Religion der neuen Heimat angenommen und gelten seitdem als slawisches Volk. Dass Bulgaren Slawen sind, ist wahr und trotzdem gelogen.
Ihre neue Identität verdanken sie der Integrationspolitik der Kaiser von Byzanz, die durch die Eingliederung eines kriegerischen Volkes ihre Westgrenze gegen die Völkerwanderung versiegeln konnten. Leider helfen diesbezügliche Tricks heute nicht mehr gegen die Touristenkarawanen, die das Land als Transitland missbrauchen. Dass diese Invasoren weniger Schaden anrichten als damals, wäre auch gelogen. Aber anders als die biblischen Plagen, lassen sie wenigstens etwas Geld da und fressen nicht alles kahl.
Nur kurz hinter Sofia kletterte der Orient Express die Berge hinauf, wild und kaum bewohnt - Balkan aus erster Hand. Es ging Richtung Mazedonien bzw. Jugoslawien, das heute nicht mehr existiert. Das wilde Land harrte noch auf seine Entdeckung als Szene von Wild West Filmen,
viele Spagetti Western wurden zwischen Bulgarien in Nis gedreht. Wenn ich mich nicht irre, auch etliche Karl May Filme. Der Zug schlängelte sich in einem tief eingeschnittenen Tal nach Nis und lieferte sich einen Wettkampf mit der Autostraße, mit der er sich die Schluchten teilen muss. Davor mussten wir uns noch gedulden, bis die neue Lok angedockt wurde. Rrrrummss - pffff!
Irgendwann hörten die ewigen Berge auf und wir erreichten eine unendlich scheinende Ebene (oder Hochebene?). Zuvor hatte sich das ewige Warten auf die neue Lok, nicht kapitalistisch, aber auch nicht ganz sozialistisch, abgespielt, natürlich ebenso der nächtliche Überfall der Grenzer auf den Schlaf. Apropos Schlaf - am zweiten Tag der Reise hatte ich bereits das Schlafen im Stehen gelernt. Denn sobald ich mich auf die Toilette begeben wollte, wurde mein Platz besetzt. Ein Mensch, der so tat, als wenn er seine Untat nicht merkte, saß auf meinem Platz, senkte sofort seine Augenlieder und reihte sich in die Schnarchtruppe ein. Ich hätte natürlich meinen Platz bewachen lassen können, was ich auch versucht habe, die angeheuerten Hilfskräfte fielen aber nach einigen Minuten selbst ins Koma und gaben den traurigen Augen der Sitzplatzpiraten nach. Es dauerte nämlich viel zu lange, bis einer sich zu der Toilette und anschließend in diese hinein bewegte. Am Tempel meiner Träume angekommen, musste ich erst einmal den Ort in den Zustand versetzen, in dem ich ihn vorzufinden wünschen würde. Und das dauerte, weil die Wasservorräte des Zugs nur notdürftig ergänzt wurden - und die Ata-Brigade, die für die Sauberkeit zuständig war, ließ sich überhaupt nicht mehr sehen.
Allzu aufregend fand ich die Situation nicht mehr, weil sich auch unser Abteil langsam in eine Müllhalde verwandelt hatte. Am interessantesten fand ich das Aussehen einer blonden, schönen Kölnerin in einem Nerzmantel. Alle paar Stunden schminkte sie ihr Gesicht neu, ohne allerdings die Rußschicht ganz entfernen zu können. Den Saft der Melonen und Pfirsiche, der an ihren Händen klebte, wischte sie dauernd an dem Pelzmantel ab. Frauen, die sich schön heraus putzen, ohne dasselbe mit ihrer Umgebung zu tun, nennt man in Istanbul sinngemäß „Frau Mandelblüte auf dem Kackhaufen“. Diese hatte sich die Bezeichnung etwas unfreiwillig verdient.
Als wir die Staatsgrenze in Pirot überschritten hatten, hatte sich die Atmosphäre zwischen uns Reisenden und der Staatsmacht (Grenzer, Gendarmerie, Polizei) total entspannt. Die Jugoslawen verhielten sich auf der nach oben unbegrenzten Humorskala um mehrere Stufen eleganter als die Türken und die Bulgaren. Zudem schoben sie auf den Bahnhöfen kleine Garküchen durch die Gegend, an denen man sich kleine Leckereien holen konnte. Mittlerweile waren nämlich unsere mitgebrachten Böreks, Hühnerbeine und Buletten entweder aufgebraucht oder sie wurden nach einem Biss durch das offene Fenster entsorgt, weil sie in den Verdacht geraten waren, an den plötzlich häufiger auftretenden Durchfallerscheinungen schuld zu sein.
Mir bot eine bulgarische Bäuerin ab und zu ein Stück Huhn an. Ich konnte es aber nicht anrühren, weil es mir schleierhaft vorkam, dass sich ein Mensch in einem kommunistischen Land ein Huhn leisten konnte. Die alte Dame war im einem Stopp in Bulgarien zugestiegen, in Dimitrovgrad. Ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich hörte, dass sie auch ins Ausland durfte. Meine Vorstellung vom Reich des Bösen wies bald deutliche Risse auf.
Diese Strecke wurde 1887 fertig gestellt, nach dem sich der mit dem Berliner Kongress von 1884 frisch gegründete Staat Serbien verpflichtet hatte, seinen Teil an der Transitstrecke nach Istanbul zu bauen. Die Großmächte Europas hatten nämlich ebenso große Pläne. Die einen hatten vor, das Osmanische Reich aufzusaugen, während die anderen (wer wohl?) einen Weg nach Bagdad und einen nach Arabien gebaut haben wollten, damit man besser das Öl nach Europa transportieren konnte. Da dieses Vorhaben schlecht auf Kamelrücken zu bewerkstelligen war, musste sich Serbien als Kamel anbieten und die Transitstrecke bauen. Die Firma, die den Bau realisieren sollte, hieß zunächst „Compagnie de Construction et Exploitation des Chemins de fer de l’Etat Serbe“, nach ihrer Pleite haben sich gleich zwei Großmächte sich der Sache angenommen, Frankreich und Österreich. Ja, damals war das Ösiland noch eine Großmacht.
Am Ende des Sommers verwandelt sich diese Gegend in eine Landschaft, die man recht treffend als Wilder Westen ausgemacht hat, als der Western nach Europa kam, wilder Osten war hier ebenso. Wieso war?
es geht weiter, auch wenn die Lok etwas lahmt …
Yarramalong ist das Land der wilden Pferde