Ein Staat, den es nicht mehr gibt
von Salzburg bis Berlin geht es etwas holprig auf der nächsten Seite …
Nis (römisch Naissus) gehörte bis zum 14. Jahrhundert vielen Herren, wurde aber dann 1385 von den Osmanen erobert. Die vorerst letzte Schlacht gegen sie wurde von János Hunyadi 1443 geschlagen, der die Stadt vorübergehend eroberte. Dieser hatte sich vorgenommen, die Türken aus Europa zu vertreiben. Eine alte Idee, die auch heute Anhänger findet. Nis blieb aber bis 1878 im Osmanischen Reich. Und das Reich bis 1923, bis es Geschichte wurde, nach immerhin 624 Jahren Geschichte.
Die Schlacht von Hunyadi war beileibe nicht die erste und die letzte Kampfhandlung hier. Das haben beliebte Orte an sich. Schon im dritten Jahrhundert wurden bei Nis die Goten von Claudius dem II. geschlagen. Rom war - zum wievielten Mal? - gerettet. Später (441) kamen die Hunnen, dann die Byzantiner unter Constantin dem Großen, dann die Avaren usw. Zu den weiteren „Eroberern“ der Stadt gehörten Bulgaren, Ungarn, Griechen und Serben. Auch Kaiser Friedrich Barbarossa war in Nis, allerdings als Freund des Despoten Stefan Nemanja. Beide hatten einen gemeinsamen Feind, der später mehrfach Opfer der christlichen (!) Brüder wurde, Byzantium. Manchen Kreuzzüglern war der Weg nach Jerusalem zu weit, und Byzanz zu reich, so fielen sie lieber über Konstantinopel her, wo seit dem Chisma von 451 (Konzil von Chalcedon) ein anderer Wind wehte und mit dem Großen Morgenländischen Chisma von 1054 die Neuen Heiden (sprich griechisch-orthodoxe Christen) die Macht hatten. Der Papst von Rom und der Patriarch von Konstantinopel hatten sich gegenseitig exkommuniziert, also aus der Kirche rausgeschmissen, in der sie ohnehin nicht sein wollten. Ich glaube, die Sache ist immer noch nicht ganz bereinigt, auch wenn sich die Nachfahren beider heute in Toleranz üben.
Eines der übrig gebliebenen Zeugnisse der blutigen und zerstörungsreichen Geschichte von Nis ist der Schädelturm, der 1809 aus Schädeln der serbischen Aufständischen gebaut wurde, die sich den Osmanen nicht ergeben wollten und von ihrem Anführer in die Luft gejagt wurden.
Ursprünglich waren es 952 (oder 1.836?) Schädel. Heute sind es nur noch wenige (etwa 35?), weil es viele nette Menschen gibt, die sich für skurrile Souvenirs erwärmen. Heute ist der Schädelturm ein nationales Mahnmal, fragt sich, von welcher Nation. Früher gab es ja keine Nationen, nur Völker. Die großen Reiche, die Nis unter ihrer Fuchtel hatten, das Römische, Byzantinische und Osmanische Reich, zeichneten sich alle als Vielvölkerstaat aus. Nationen hingegen sind erst nach der Französischen Revolution von 1789 entstanden, oder auch nicht.
Während Nis mit seiner Vergangenheit nicht so verkniffen umgeht, war es etwa 250 km weiter im Nordwesten, in Belgrad anders. Dort stehen z.B. in Kalemegdan zwei Helden aus zwei Epochen, die von der Wehrhaftigkeit der Nation zeugen. Dummerweise hat gerade dieser Ort einen türkischen Namen. Und auf diese sind die Serben besonders böse. Nicht wegen der verlorenen Schlachten, sondern eher wegen der Albaner. Dieses Volk hatte sich zwar viel furioser gegen die Machtübernahme durch die Osmanen gewehrt, aber umso schneller den Islam übernommen. Dadurch war es privilegiert und konnte sich in alle Himmelsrichtungen durch das riesige Reich ausbreiten. Auch die heutige Kosovo-Krise ist Folge dieser Expansion.
Während meiner Fahrt spielte die Krise noch keine Rolle. Marschall Josip Broz Tito, der Befrieder des Balkans, war auf der Höhe seiner Macht - und zusammen mit Jawaharlal Nehru von Indien Führer der Blockfreien. Zuvor hatte er einen anderen Führer mächtig bekämpft. Nun lag Ruhe über dem Land.
Die Ruhe zog sich hin bis Ljubljana, auch Laibach genannt. Wir fuhren durch unendliche Maisfelder, die bis zum Horizont - oder etwa weiter? - reichten. Die schnaufende Dampflok vorn hatte einer Diesellok Platz gemacht, wodurch wir auf den billigen Plätzen nicht mehr so viel Ruß in die Nüstern geblasen bekamen. Ansonsten hatte sich die Gesellschaft in den Waggons stabilisiert. Wer sich zwei oder drei Stunden einen kurzen Spaziergang ins Reich der Träume gegönnt hatte, stand kurz auf und räkelte sich. Im gleichen Augenblick verlor er seinen Platz an einen Schlafwilligen, den das gleiche Schicksal ereilte, sobald er seinen Allerwertesten von den begehrten Polstern erhob. Die Kölnerin wischte ihre Hände nicht mehr von türkischen oder bulgarischen Melonen frei, sondern von jugoslawischen. Böreks und Buletten waren endgültig durch die damals noch nach unten offenen unaussprechlichen Kabuffs in die Natur gejagt worden. Österreich erwartete uns …
Als der Zug in Slowenien die ersten nennenswerten Berge der Reise in Angriff genommen hatte, war schon längst wieder Nacht. Der nächste Morgen erwartete uns in einem wahrlich unnachahmlichen Alpenpanorama mit viel Schnee auf den Berggipfeln. Der nunmehr elektrisch angetriebene Zug düste durch enge Täler, durch die sich auch die Straßen zwängten. Ich erkannte zum ersten Mal in meinem Lebens das Spiegelei-Problem. Das ist, was das zweite Ei in der Pfanne erlebt, weil sich das erste hat frei entfalten und ausbreiten können. So geht es vielen Straßen in den Bergen - zuerst war die Bahn da.
Meine Bewunderung für die Ösis erwächst nicht ihren Fähigkeiten im Straßenbau (da legen die italienischen Straßenbauer die Kurven um Längen eleganter), sondern dem nächtlichen Wunder. Über Nacht waren die Toiletten sauber - und man konnte wieder nach Herzenslust … Und das mit Blick auf die verschneiten Alpengipfel!
Noch war mir nicht bekannt, welcher Ruf den Ösis angemessen war. Die Wahrheit habe ich in einem anderen Land mit noch schöneren Bergen erfahren, in der lauter böse Witze über das Nachbarvolk gesponnen werden. So z.B. die Frage, warum die Flagge von Österreich rot-weiß-rot ist. Antwort: Damit die Demels sie nicht falsch aufhängen können. Wenn dem so ist, müssten die Witzereißer geistig noch weniger auf dem Kasten haben, denn die Flagge von Österreich lässt sich nur nach oben und unten vertauschen, die von der Schweiz kann man rechts und links auch vertauschen, ohne dass das Kreuz Kopf steht.
Yarramalong ist das Land der wilden Pferde